1. Carl Czerny – der erste Lehrmeister
2. Entwicklung der Klaviertechnik bis Liszt im Überblick
3. Genealogie der Pianistischen Tradition
4. Das Klavierwerk Liszts in seiner Bedeutung für Neuerungen der Technik durch Veränderungen des Klaviersatzes-
Etüden – Technische Studien
5. Bewegungsformen im Einzelnen anhand der Überlieferung von Martin Krause und Claudio Arrau 6. Liszt als Lehrer in der Überlieferung von August Göllerich
1.Carl Czerny – Der erste Lehrmeister
Im November 1820 stellte Adam Liszt seinen 9-jährigen Sohn Ferenc das erste Mal in einem Konzert in Ödenburg der Öffentlichkeit vor. Franz Liszt spielte das Klavierkonzert Es-Dur von Ferdinand Ries und improvisierte über vorgegebene Themen. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt erst 3 Jahre bei seinem Vater Klavierunterricht erhalten hatte, war der Erfolg bei diesem und einem folgenden Konzert beim Fürsten Esterházy in Preßburg so durchschlagend, dass ihm ein Stipendium in Aussicht gestellt wurde. Somit übersiedelte sein Vater 1822 mit ihm nach Wien, um bei Johann Nepomuk Hummel Unterricht zu nehmen. Wegen zu hoher finanzieller Forderungen Hummels, der als Schüler Mozarts übrigens eine andere Tradition des Klavierspiels als Czerny verkörperte, landete Liszt aber schließlich beim Beethoven-Schüler Czerny, der ab Mai 1822 für 14 Monate sein Lehrer wurde. Bei Czerny wurden die technischen Grundlagen vermittelt und vor allem auch Blattspielen und Improvisation gepflegt, sodass Liszt bald auch imstande war schwierige Kompositionen öffentlich prima vista vorzutragen. Nachdem die Pläne in der Folge am Conservatoire de Paris die Ausbildung fortzusetzen scheiterten, bedeuteten diese 14 Monate den einzigen regulären Unterricht, den Liszt Zeit seines Lebens erhielt. Die Aufnahme am Konservatorium Paris unter seinem Direktor Cherubini wurde mit dem Argument verhindert, dass in den Klavierklassen keine Ausländer unterrichtet werden dürften. Somit blieb Liszt in der Folge nur das Selbststudium, das er anfänglich vor allem auf der Grundlage der Klavierschule Kalkbrenners betrieb.
Zurück zu Czerny und seiner Bedeutung als Lehrer des jungen Liszt in Wien: Czerny selbst war von 1800 bis 1803 Schüler Beethovens und stellt somit ein Bindeglied in der Tradition pianistischer Ausbildung zwischen diesem und seinem berühmtesten Schüler dar. Neben Liszt sind als Schüler Czernys Theodor Kullak und vor allem Theodor Leschetitzky, der selbst Begründer einer eigenen Tradition wurde, zu nennen. „Czerny unterrichtete nicht nach vorgegebenen Grundsätzen, sondern war der Ansicht, in der Praxis könne es keine allgemeingültige Lehrmethode geben. Das ging seiner Ansicht nach bis zu den Fingersätzen für die nach Breite, Größe und Form verschiedenen Hände. Jedes Musikstück musste danach der entsprechenden Hand angepasst werden….Wenn Liszt und Leschetitzky weitergaben was sie von Czerny empfingen, ist Czerny wohl als der Schöpfer des modernen Klavierspiels zu betrachten.“ Nachdem wir von Schülern Leschetitzkys, der wie Liszt und im Gegensatz zu Czerny keine theoretischen Abhandlungen beziehungsweise auch keine Klavierschule verfasste, wissen, dass er wie Liszt seine Schüler je nach Typ sehr verschieden unterrichtete, können wir mit Sicherheit von dieser spezifischen Bedeutung Czernys für seine beiden wichtigsten Schüler ausgehen.
In der Folge wurde dann ab 1824 in Paris Liszt wieder von seinem Vater unterrichtet. Mehr und mehr lernte er aber in den kommenden Jahren seine Verantwortung als Autodidakt wahrzunehmen. Und zwar nicht nur in klaviertechnischer Hinsicht, sondern auch was Allgemeinbildung betraf: Homer, Plato, Byron, Lamartine und andere gehörten zur täglichen Lektüre.
2.Entwicklung der Klaviertechnik bis Liszt im Überblick
Wenden wir uns nun kurz der Entwicklung des Klavierspiels bis Liszt im Überblick zu: Die Entwicklung des Klavierspiels ist in besonderer Weise am Ende des 18. und im 19. Jahrhundert mit kompositorischen Neuerungen wie auch der damit in wechselseitiger Beziehung stehenden Entwicklung des Instruments verknüpft. So baute etwa Erard 1796 seinen ersten Hammerflügel mit einer weiter verbesserten englischen Mechanik. Ein Instrument dieser Konstruktion wurde 1803 auch ein Geschenk an Beethoven, wobei die nunmehr geschaffene „doppelte Auslösung – double échappement“ als später von Herz 1840 weiterentwickelte Repetitionsmechanik in der Folge für die Virtuosenliteratur der Romantik eine unerlässliche Bedingung wurde. Ein Prozess notwendiger Entwicklungen des Klavierbaus für die jetzt geforderten technischen Probleme, welcher um 1880 im Wesentlichen abgeschlossen war, sodass seit dieser Zeit das Klavier trotz verschiedener Klangideale in der Konstruktion nahezu unverändert blieb.
Was die Veränderungen in technischer und damit verbunden auch in musikalischer Hinsicht anlangt, sind als Grundlage späterer Entwicklung die Instrumentalschule von C.Ph.E. Bach (1753), Türks Klavierschule (1789), die Schule des Mozart Schülers Hummel (1828) und die Große Pianoforteschule op.500 von Carl Czerny zu erwähnen. Der ganzheitliche und somit moderne Ansatz dieser Schulen, die technische Fragestellungen wie auch den Bereich der Gestaltung berücksichtigen, soll besonders erwähnt werden.
Schon die Klavierwerke Beethovens, aber noch viel mehr die Klavierwerke der Romantik verlangten sukzessive eine neue Technik. Die ältere Technik mit ruhiger Hand und primären Fingerspiel erwies sich immer weniger adäquat. Vielmehr wurden die Finger zunehmend als Endglieder des Arms verstanden und zur Gewichtsübertragung usw. eingesetzt. Eine Entwicklung die viel später ihre theoretische Aufarbeitung bei Breithaupt in seiner „Grundlage des Gewichtsspiels“ erfuhr. Während nach Ph.E. Bach primäres Fingerspiel mit relativ stark gebeugtem Finger üblich war, weist etwa Kalkbrenner bereits 1830 darauf hin, dass man mit dem fleischigen Teil des Fingers spielen müsse, also mit der Fläche statt mit der Spitze des vordersten Fingerglieds, was später als Polstertechnik definiert wurde. Nur so könne man auf dem Pianoforte einen runden und warmen Ton erzeugen.
Trotz Beethovens großer pianistischer Erfolge und seinen pädagogischen Ansätzen (siehe Czerny) waren es vor allem die Neuerungen des Klaviersatzes seiner Werke, die dem Klavierspiel neue Akzente abverlangt haben. Über Beethovens Schüler Czerny und seine Schüler Liszt und Leschetitzky wird in der Folge die Richtung des Klavierspiels im 19. Jh. vorgegeben, wobei andere Traditionen wie etwa Mozart-Hummel sowie die Tradition Chopins weitere Anteile lieferten. Czernys Etüdenwerk geht zwar von der Fingertechnik aus, vor allem unter dem Aspekt der Ausdauer, Geschwindigkeit und Gleichmäßigkeit, in späteren Jahren jedoch schon darüber hinaus. So schreibt er in seiner Klavierschule 1846 im Kapitel „Von dem Vortrage“, dass gewisse Musik auch die Kraft des Arms benötige. In seinem Spätwerk Opus 821, erschienen 1853 (also etwa zeitgleich mit den 6 Paganini-Etüden Liszts) welches eigentlich die Zusammenfassung aller bis etwa 1850 üblicher Bewegungsformen darstellt, finden wir Repetitonstechnik, Sprünge, Akkordtechnik usw., die sich nur noch mit Beteiligung des Arms bewältigen lassen.
Nach Wien wird in der Folge ab den 1830er Jahren Paris die Wirkungsstätte bedeutender Virtuosen der Zeit. Neben Kalkbrenner und Thalberg wirkt als Ausnahmeerscheinung und Antipode Liszts Chopin. Chopin kannte wie kein anderer die klanglichen Möglichkeiten das Klaviers, wobei sich sein Klaviersatz primär nach den Obertonmöglichkeiten des Instruments gerichtet hat. Somit kommt durch ihn der Pedaltechnik auch mit Halb- und Viertelpedalen eine besondere Bedeutung zu. Wenn man Klanggestaltung und Artikulation als Ergebnis der Anschlagstechnik versteht, so kommt ihm aufgrund seines enormen Differenzierungswillens und den daraus resultierenden Spielanweisungen wie leggierissimo, leggierissimo e legatissimo, ben legato, jeu perlé usw, teilweise auch aus der Gesangstechnik (parlando, portamento) auch in technischer Hinsicht große Bedeutung zu. Charakteristisch für ihn die Geschmeidigkeit des Bewegungsablaufes, bei der das Handgelenk sozusagen als „Atmungsorgan“ fungiert.
3.Genealogie der Pianistischen Tradition
Werfen wir nun einen Blick auf die Genealogie der pianistischen Tradition, die Lehrer-Schülerbeziehungen in der Linie bis Liszt und was seine Schüler und Enkelschüler betrifft.
Von Beethoven ausgehend, der im Vergleich zu den Linien nach Ph. E. Bach, Mozart, Clementi oder Chopin über seinen Schüler Czerny wie erwähnt mit Abstand den größten Teil der pianistischen Tradition beeinflusst hat, gelangen wir zu Liszt und Leschetitzky, die ihrerseits eine jeweils enorme Bedeutung für spätere Generationen haben. Wenden wir uns zuerst kurz einem neben Chopin weiteren Antipoden von Liszt zu: Theodor Leschetitzky lebte von 1830 bis 1915 und lehrte zuerst am Konservatorium Petersburg sowie ab 1878 in Wien, wo er vielleicht der einflussreichste Klavierpädagoge des 19. Jahrhunderts wurde. Seine Schüler unterrichtete er nach einer jeweils individuellen Methode, die er nach eigenen Angaben von seinem Lehrer Czerny übernommen hatte. Er versuchte somit wie Liszt auf eine viel intuitivere Art Alt und Neu miteinander zu verbinden. Das Spiel aus den Fingergrundgelenken hat dabei die gleiche Bedeutung wie das Spiel aus der Schulter und die Integrierung des gesamten Arms. Während dabei für Czerny mechanische Prinzipien beim Erwerb der Technik noch im Vordergrund standen, ging es Leschetitzky vielmehr um die geistige Durchdringung der Materie und eine Reduktion des Übepensums.
Zu seinen Schülern gehörten unter anderem Arthur Schnabel mit dessen Schüler Leon Fleisher, Ignaz Paderewsky, Ignaz Friedman, die berühmte Schweizer Pädagogin Anna Hirtzel-Langenhahn mit ihren Schülern Dinu Lipatti und Clara Haskil, wobei-Detail am Rande- Haskil erst ab dem 40. Lebensjahr bei ihr Unterricht nahm, und viel andere mehr. Wie groß sein Einfluss auf Godowsky war, der mit ihm in Wien jedenfalls Kontakt hatte, ist nicht eindeutig geklärt. Sicher ist aber über ihn auch ein Einfluss auf die von Godowsky ausgehende russische Linie mit Neuhaus, Richter und Gilels.
Nun zu Liszt und die von ihm ausgehenden Traditionen:
Bedeutende Pianisten aus seiner Schule waren unter anderem:
-Der österreichische Pianist Emin von Sauer (1862-1942), der als einer der letzten Schüler von Liszt zwischen 1884 bis 1885 in Weimar studierte. Seit 1901 leitete Sauer eine Meisterklasse am Wiener Konservatorium, wobei Elly Ney seine bedeutendste Schülerin wurde.
-Moritz Rosenthal (1862-1946)
-Conrad Ansorge (1862-1930)
-Hans von Bülow (1830-1894) als Lehrer von Heinrich. Barth (Lehrer von Kempff u. Artur Rubinstein)
-Alfred Reisenauer (1863-1907)
-Eugen d’Albert (1864-1932), bei dem Wilhelm Backhaus u.a. studierte
-Heinrich Barth (1847-1922) als Lehrer von Artur Rubinstein
-Martin Krause (1853-1918) als Lehrer von Edwin Fischer und Claudio Arrau
-Alexander Siloti (1863-1945), der mit seinen Schülern Rachmaninoff, Igumnov, Goldenweiser eine weitere große Pianistentradition neben der von Neuhaus und jener von Anton Rubinstein (Petersburg) begründete.
-Carl Tausig (1841-1871)
-August Göllerich (1859-1923), der nicht nur Schüler von Liszt in dessen letzten Lebensjahren 1884-1886 war, sondern auch in dieser Zeit sein Sekretär. In dieser Funktion hat er auch kostbare Tagebuchaufzeichnungen über den Klavierunterricht von Liszt in Weimar, Rom und Budapest verfasst. Dem Enkel Göllerichs, dem ehemaligen Professor unseres früheren Bruckner-Konservatoriums, Hugo Rabitsch, war es zu verdanken, dass diese Manuskripte überhaupt veröffentlicht werden konnten. Um den Exkurs in die Geschichte der jungen Anton Bruckner Privatuniversität abzurunden sei erwähnt, dass diese Veröffentlichung in Buchform von Wilhelm Jerger, der selbst dem Bruckner-Konservatorium vorgestanden hat, verfasst wurde. In der Folge wird auf die Charakteristik dieser Beschreibung noch einzugehen sein.
4.Das Klavierwerk Liszts in seiner Bedeutung für Neuerungen der Technik durch Veränderungen des Klaviersatzes – Etüden – Technische Studien
Neuerungen im Klaviersatz erzwingen für Liszt und jene, die seine Werke spielen, neue technische Notwendigkeiten. Wie also eine sich organisch verändernde Technik aus den Veränderungen im Instrumentenbau resultiert, so nunmehr verstärkt aus den Werken selbst, wobei Liszt jeweils primär aus der geistigen wie auch akustischen Vorstellung intuitiv neue Bewegungsformen schafft. Nur einmal und zwar viel später 1868 in den 3 Bänden seiner technischen Studien versucht er sozusagen exemplarisch die inzwischen längst gängigen Spielformen zu katalogisieren und dem Lernenden ein Übungsmaterial zur Verfügung zu stellen.
1868 unternahm Liszt mit seinem Theologielehrer Antonio Solfanelli eine Reise nach Grottamare an der Adria-Küste, wo er nicht nur täglich theologische Texte las, sondern auch seine 3 Bände der Technischen Studien begann, die sozusagen ein Brevier darstellen, eine Substrat dessen, was sich an Schwierigkeiten in seinen Werken findet. Liszt hatte während der Arbeit kein Klavier zur Verfügung, notierte auch nur einen kleinen Teil, der Rest entstand im Kopf und wurde mit Ergänzungen 2 Jahre später fertiggestellt. Die Übungen stellen dabei vor allem auch geistige und vorstellungsmäßige Herausforderungen: Zum Beispiel werden Tonleitern – abwechselnd rechts und links gespielt – verlangt oder aber Arpeggios werden zu Tonleitern, wenn sie aus diesen – rechts u links versetzt gespielt – entstanden sind. Übungen, die für das Ohr wie auch Entspannung sowie Anpassung an die Tastatur höchste Anforderungen stellen. Verschiedene Fingersatzvarianten bringen dabei direkten Bezug zu seinen Werken, so etwa Skalen im schnellen Tempo jeweils mit 1 bis 5 gespielt oder aber 123123, bzw. auch 1 bis 4 rechts und links alternierend.
Neue Fingersatzvarianten und Aufteilungen bringen nicht nur eine Fortsetzung der Überlegungen Czernys mit sich, was den anschlagsmäßigen Ausgleich der 5 Finger mit ihren ursprünglich sehr unterschiedlichen Qualitäten anlangt, ebenso neue Möglichkeiten , was Geschwindigkeit betrifft, sondern auch vor allem im Bereich der Dynamik durch Integrierung von Masse und Geschwindigkeit des Arms.
Werfen wir nun einen Blick vom Substrat zum Klaviersatz selbst mit seinen unzähligen Neuerungen: Aufbauend auf die satztechnischen Mittel der Wiener Klassik stößt Liszt in Paris zuerst auf Kalkbrenner und seine neuartigen Spielformen: Das Übereinandergreifen der Hände in vielen Varianten sowie ausgeprägte Sprungtechnik. Ziemlich früh übernimmt Liszt auch den damals aufkommenden Brauch, die Melodie in die Tenorlage zu versetzen. Damit entstehen mit der sogenannten Daumenmelodie, wobei der Daumen auch abwechselnd links und rechts zum Einsatz kommt, neue Varianten der Umspielung. In der Folge wird abwechselnd die Melodie auch oktaviert eingesetzt, etwa in der Bearbeitung des Ave Maria von Schubert.
Durch die Beschäftigung mit der sinfonischen Musik von Berlioz entwickelt Liszt auch zunehmend seinen Sinn für orchestrale Wirkungen, wobei der Satz aber nicht überladen wirkt, wenn die dynamischen Abstufungen eingehalten werden. Durch neuartige Repetitionen in Akkorden wird oft die Melodie sozusagen über mehrere Oktaven verstärkt, wie etwa in seinem Cantique d’amour und zahllosen anderen Werken.
Auch was die Geläufigkeitstechnik anlangt, verlangt Liszt aufgrund der vorgeschriebenen Geschwindigkeit Neuerungen, und zwar den Verzicht auf den Daumenuntersatz in Skalen und die jeweilige Fingerfolge 1 bis 5 im schnellsten Tempo.
Somit kommt nun dem Armschwung eine viel größere Bedeutung zu als der Fingerbewegung. Eine Spielweise, die übrigens später Busoni in seiner Klavierübung in 10 Bänden in allen Varianten – sprich Verzicht auf den Daumenuntersatz – einfordert. Durch den Armschwung in seinen verschiedenen Formen wird zwangsläufig somit der Fingersatz revolutioniert.
Das Ineinandergreifen beider Hände in Läufen und auch in Oktaven ermöglicht sozusagen eine doppelte Geschwindigkeit, indem 2 Bewegungsabläufe synchron aber zeitversetzt parallel ablaufen. Zusätzlich wird durch die Integrierung des Armes auch in Läufen eine gesteigerte Dynamik ermöglicht.
Die Spieltechnik erreicht somit neue Dimensionen in Hinblick auf Tempo, Dynamik und Verwendung aller Register des Klaviers, wobei für Liszt mit zunehmenden Alter das Klavier immer mehr als Vermittler ganzheitlicher poetischer, literarischer und weltanschaulicher Ideen wird, was vom Interpreten den ganzen Menschen einfordert und die Technik immer mehr als Ergebnis eines geistigen Prozesses versteht. Während Liszt noch in der Pariser Zeit in den 1830er Jahren selbst für ein tägliches Üben ausschließlich von technischem Material plädiert, wird für ihn in der Folge Technik immer mehr gleichbedeutend mit Ausdruckfähigkeit.
Auch die 12 transzendenten Etüden zeigen diese innere Entwicklung sehr deutlich: Sie liegen in 3 Fassungen vor. Die erste Fassung aus dem Jahr 1826 des damals 15-jährigen zeigt, was Liszt bis zu diesem Zeitpunkt übernommen hatte. In der überarbeiteten 2. Fassung von 1839 versucht er als Paganini des Klaviers diesen in den Schatten zu stellen. Diese Fassung ist gleichzeitig technisch überladen wie künstlerisch unbefriedigend. In der 3. und letzten Fassung, den heute bekannten Etudes d´execution transcendante, schafft er den Ausgleich zwischen technischer Herausforderung und klanglicher wie auch inhaltlicher Botschaft. Auch bei den 6 Paganini-Etüden finden wir eine Fassung von 1838 neben der heute üblichen von 1851, wobei beide in einem ähnlichen Verhältnis zueinander stehen wie die der Transzendenten.
5 der 6 Paganini-Etüden entnehmen die Thematik den Paganini-Etüden, nur die 3., La Campanella, dem Rondo des h-Moll Violinkonzertes von Paganini. Dass Liszt dabei das Stück von h-Moll nach gis- Moll legt, liegt auf der Hand, da die nicht gerade leichten Sprünge natürlich auf den schwarzen Tasten leichter oder sagen wir einmal etwas weniger schwer zu liegen kommen.
Bewegungsformen im Einzelnen anhand der Überlieferungen von Martin Krause und Claudio Arrau
Claudio Arrau studierte beim Liszt-Schüler Martin Krause von 1913-1918 in Berlin. In den USA gründete Arrau später die berühmte „Piano School“, um sich neben der Konzerttätigkeit auch dem Nachwuchs zu widmen. Seine Managerin Rothe bewirkte die Veröffentlichung des Bandes „Die Klaviertechnik in der Tradition von Claudio Arrau“, der uns direkten Einblick in die Fortsetzung der von Liszt ausgehenden Tradition gibt. Grundlage ist der Einsatz des gesamten Körpers, insbesondere des Armgewichts sowie ein adäquater Tonus von Muskeln bzw. Gelenken, auch als Voraussetzung für den effektiven Einsatz des Fingers. Ergebnis solle vor allem auch im Forte ein runder, warmer Ton sein im Gegensatz zu dem oft stählernen Anschlag anderer Pianisten. (Als Tonbeispiel für dieses von ihm theoretisch geforderten und auch pianistisch realisierten Klangs bringe ich aus der von Brendel zusammengestellten CD-Serie „Great Pianists“ mit Arrau das Finale aus Vallée d’Obermann.)
In Arraus Unterrichtsphilosophie finden sich viele Parallelen zu Liszt, einerseits ging es trotz aller technischer Beobachtung primär um die Vermittlung des geistigen Gehalts der Musik. Daneben war auch der Umgang mit begabten Schülern ein ähnlicher: Wie auch Liszt unterrichtete er oft ohne Honorar, auch weil ihm die Nähe zu Schülern, mit denen er die Ansichten teilen und weiterentwickeln konnte, so wichtig war.
Nun einige Grundbewegungen aus dieser Tradition im Überblick:
a) Der Einsatz des natürlichen Armgewichts durch die Fallbewegung des ganzen Arms, bei geringsten Spannungsgrad der beteiligten Arm- und Schultermuskulatur: Der Arm wird gehoben, wie wenn ein überdimensionaler Marionettenspieler den Ellenbogen an einem Faden anhebt. Dann wird der Arm auf einen Akkord fallen gelassen, wobei beim Anschlag eine Stütze der Fingergelenke bzw. des Fingergrundgelenks erforderlich ist. Je nach Dynamik kann mehr oder weniger Armgewicht eingesetzt werden bzw. ein Armschwung integriert werden. Das Handgelenk sollte den Aufprall leicht abfedern.
b) Schwer-leicht: Das Fallenlassen des Armgewichts mit nachfolgendem Abziehen nach oben z.B. bei Betonungen auf den Schwerpunkt und nachfolgender Auflösung wie auch zur Phrasierung. Bei längeren Tongruppen wird die Handgelenksbewegung im Tempo an die Länge der Einheit angepasst.
c) Hochgeworfene, akzentuierte Akkorde, Intervalle und Einzelnoten: Von der Taste schnellt die Hand durch den vom Rücken ausgehenden Bewegungsimpuls nach vorne und wird daraufhin nach oben weggeschleudert. Nach dem Hochwerfen folgt die sofortige Entspannung und der Arm fällt zurück.
d) Rotationen bei gebrochenen Akkorden, Alberti-Bässen, Tremoli usw.: Finger aufsetzten, das Handgelenk leicht erhöht – als gestützte Achse der Bewegung; der Unterarm wird schwungvoll um die eigene Achse gedreht oder je nach Situation auch der zusammengefasste Arm aus der Schulter.
e) Gewichtsverlagerungen durch Kreisbewegungen des Handgelenks: Bei beinahe passiven Fingern wird- vom Arm geführt- das Gewicht von Finger zu Finger verlagert.
5. Liszt als Lehrer in der Überlieferung von August Göllerich
Wenden wir uns abschließend noch kurz den in gewisser Weise auch kuriosen Tagebuchaufzeichnungen von August Göllerich zu, der uns über den Unterricht von Liszt aus den Jahren 1884-1886 berichtet. Ob Göllerich seine Aufzeichnungen im Hinblick auf eine spätere Veröffentlichung verfasst hat, ist ungewiss. Jedenfalls war er sich der Bedeutung der Situation bewusst, zumal es sich beim Schülerkreis aus den letzten Lebensjahren fast ausschließlich um konzertierende Pianisten handelte, wie etwa Sophie Menter, Emil v. Sauer und Moritz v. Rosenthal. Nachdem Liszt selbst in seinem Denken und seiner Übungsweise vom primär mechanistischen Ansatz zu einer ausschließlich von der Vorstellung geleiteten Spielweise übergegangen ist, hat diese auch seinen Niederschlag im Unterricht gefunden. Und nachdem man auch von einer Entwicklung innerhalb eines Pädagogenlebens ausgehen sollte, kommen somit seinen Statements am Lebensende besondere Bedeutung zu.
„Die Belehrungen, die Liszt seinen Schülern erteilte, sind aufschlussreich. Mehrfach begegnen wir etwa seinem Vorschlag, den 4. Finger auf den Obertasten zu benützen. Liszt wurde einmal gefragt, ob man wohl auch den 3. Finger nehmen dürfe, worauf er entgegnete, er nehme ihn selbst oft, doch habe er ja eigentlich nicht Klavierspielen gelernt… Viele seiner Anweisungen sind mit sarkastischen Anweisungen durchsetzt. Zuweilen macht er sich auch über seine eigenen Klavierwerke und sein Klavierspiel lustig.“
Die bilderreiche Sprache, die faktisch nur auf Interpretation und Gestaltung reflektiert, kann nicht nur beispielhaft sein in der Strenge der Beurteilung, sondern auch in der Fähigkeit, Kritik in wenigen Worten auf den Punkt zu bringen, wobei die Hoffnung der Schüler, vom Meister vor allem technische Anweisungen zu erhalten, durchwegs nicht erfüllt wurde.
Ohne näher auf die konkrete Unterrichtssituation einzugehen, abschließend 2 Unterrichtschilderungen Göllerichs mit Beispielen für die sehr bilderreiche Sprache , die in wenigen Worten – oft auch erheiternd – zu veranschaulichen in der Lage ist, was unter Umständen in einer operationalisierten Form modernistischer Pädagogik nicht möglich erscheint. Beispiel, die zeigen, wie teilweise heute doch manches nobel umschrieben wird ohne jeweils den Kern der Sache zu treffen oder gar zu Ergebnissen zu kommen, die zumindest potentiell den Weg für eine Berufslaufbahn ebnen. Ja, es scheint so zu sein, nur wer wie Liszt ohne Rücksicht in seinen Anforderungen an sich selbst agiert, findet diese Stringenz in Wortwahl und Ansprüchen, welche die Kunst einfordert, normal. Letztendlich stellt sich somit die Frage an das künstlerische Gewissen, wem wir vorrangig dienen, dem Werk und seinen Ansprüchen oder dem Schüler, der primär von der Art und dem Inhalt des Unterrichts, weniger durch seine eigenen Ansprüche und deren Erfüllung befriedigt wird.
Beispiel 1: Weimar, Juni 1884, Chopin. Nocturne c-Moll:
Die erste Dame spielte das Thema am Beginn ungeheuer sentimental und zerrissen, worauf sich der Meister setzte und in weiter, breiter Weise spielte. Das Fräulein wiegte sich in ihrem Spiel immer hin und her, worauf der Meister sagte, halten sie sich ganz ruhig, Kind. Dann kam er auf das moderne Zerreißen aller Themen zu sprechen und sagte: “ Pfui Teufel, das ist schon gegen allen Anstand…ja, das sind die Priesterinnen der Kunst, die wollen Chopin einmal zur Geltung bringen. Ja meinen sie denn, das hat vor ihnen noch niemand gespielt? Nur nicht diese äußerliche Verinnerlichung….Zu Ihnen kann man sagen, wie zu Ophelia-gehen sie in ein Kloster, gehen sie in ein Konservatorium.“ Zur zweiten Dame sagte er bei der gleichen Stelle: “ Das kann ich Ihnen nicht zeigen, das muss Ihnen Ihr eigenes Gefühl eingeben, das kann Ihnen nicht einmal ein Herr Professor zeigen, der ich wohl nicht bin.“
Beispiel 2:
Weimar, Juni 1885,
Liszt: Aus den Transzendenten Etüden: Nr. 7, Eroika mit August Göllerich als Schüler
Anfang sehr energisch und fest. An der Stelle, wo das Thema mit den Oktaven kommt sagte er: “ Nicht so lustig und wie zum Tanze, sondern tüchtig dreinhauen, die Kerle sollen einmal ordentlich geohrfeigt werden. Sie haben das ganze Stück nicht männlich, sondern etwas fräuleinhaft gespielt.“ Unter anderem sagte der Meister dann folgendes: „Diese Geschichte erzähle ich gerne. Der Wiener Komiker Blasel gastierte in Genf und auch sonst im Auslande. Als er zurückkam, fragten ihn seine Freunde, was er alles gelernt habe und er antwortete: gelernt hab ich nichts, aber arrogant bin ich geworden.“