In der griechischen Antike besaß die Kunst, nach dem altgriechischen mousike als Musik bezeichnet – wobei also zwischen mousike im weiteren als “Kunst der Musen“ und im engeren heutigen Sinn unterschieden werden muss – eine überaus hohe Bedeutung. Ihr Einfluss auf den Menschen, der Zusammenhang mit seiner Natur und dem Kosmos wurde zu erfragen versucht. Die Einwirkung der Musik auf die Seele und den Charakter für die Staatsordnung aufzuwerten getrachtet, Tonfolgen auf ethische Leistungen überprüft, von Theoretikern das Tonmaterial analysiert und normiert, das Klangprodukt durch Zahlen auszudrücken versucht.
Es kann zwischen a) der rein handwerklichen Fachkunde ausübender Musiker, den Harmonikern im Gegensatz zu den eigentliche Praktikern, den Organikern, wohl nur Dilettanten auf dem Instrument, mit der Absicht in das Gebiet der technai einzudringen , b) der naturwissenschaftlichen Beschäftigung, zum Beispiel Intervallehre der Pythagoreer, und c) dem philosophisch – pädagogischen Zweig (Ethoslehre und z.B. politische Erziehung des Damon) unterschieden werden. Von den Pythagoreern, deren Untersuchung die zahlenhaften Gesetzmäßigkeiten und die Wirkung auf die praktischen Musiker betraf, wurde das Spezialfach der “Harmonik“ ausgebildet. Natürlich muss bei einer solchen Unterscheidung auch die Verschiedenartigkeit des heutigen und damaligen Wissenschaftsbegriffs vorausgesetzt werden, die Objekte wurden nicht isoliert betrachtet.
Wenn wir uns nun den Begriffen Noetik und Ästhetik zuwenden, treffen wir auf der einen Seite auf die Pythagoreer beispielweise, auf der anderen auf Platon und Aristoteles, wobei, wie sich zeigen wird, bei ersterem neue Ästhetik und noetische Grundanschauung sich begegnen. Wie Schäfke in seiner Musikgeschichte in Umrissen verweist, besitzt die noetische Periode eine sehr große zeitliche Ausdehnung. Wir finden deren Elemente bei den alten Kulturvölkern Ägyptens und Assyriens genauso wie in China und Indien.
In China etwa befiehlt der Herrscher Huangdi 2700 v. Chr. dem Ling-Lun die Musik auf Gesetz und Regeln zurückzuführen, welcher das dann mit Hilfe von Bambusrohren verschiedener Länge versucht, indem die verschiedenen Längen, welche für die Töne das Maß angeben, dadurch definiert werden, dass der Inhalt der Rohre nach hineingeschütteten Hirsekörnern bemessen wird.
Auf Grund der – nach dem Pythagoreer Philolaos – beiden Prinzipien des Begrenzten und Unbegrenzten wäre es unmöglich gewesen eine Weltordnung zu begründen. Die Lösung bestand deshalb darin, Peiron und Apeiron mit denen ihnen zugehörigen Gegensatzpaaren durch ein solches Prinzip zusammenzuschließen, welches die Weltordnung trotz dieser Gegensätze ermöglicht. Dieses Prinzip fand Philolaos in der Harmonie, durch welche die Welt erst zum geordneten Kosmos werde.
Die Definition der Harmonie als Vereinigung von Gegensätzlichem ist für das Verständnis der griechischen musikalischen Noetik grundlegend. Harmonie bedeutet nun nämlich auch Vereinigung im übertragenen Sinn, Ordnungsprinzip metaphysischer wie kosmische Natur. Für die Musik ist die Erscheinung der Konsonanz und deren Proportionen 1: 2, 2: 3 und 3:4 für Oktav, Quint und Quart von Relevanz. Diesem Bau der musikalischen Verhältnisse entspricht nämlich auch der Bau der Welt und der Lebewesen bzw. der Seelenstrukturen. Die Musik ist somit Inbegriff der Gesetzmäßigkeit, sie ist Formkunst. Im umgekehrten Verhältnis zum Begriff der Harmonie steht der Begriff der Zahl. Während die Harmonie zur synthetischen Einheit strebt, ermöglicht die Zahl der Zerlegung der Wirklichkeit in kleinste Elemente; es wird sich zeigen, dass bei Platon eine selbstständige Weiterentwicklung der Zahlenlehre stattfindet.
Wobei sowohl die einzelnen Zahlen als auch ihre Kombinationen Bestimmungen erfahren, somit die Verbindung zu den Proportionen der Konsonanz- und Dissonanzlehre der Pythagoreer hergestellt ist.
Bei ihnen geht es um den mathematischen Kern, durch den das noetisch Seiende, nicht aber das Scheinende der sinnlichen Außenwelt bewirkte wird; die ethische Funktion
ist somit formal. Harmonie, Gesetzmäßigkeit der Musik wirkt auf den Menschen und bringt Maß und Ordnung in den seelischen Ablauf.
Dem gegenüber steht nun eine Ästhetik, welche die wirklich wirkende und wirklich gehörte Musik betrachtet; auch hier geht es um ethische Werte, nur dass die Musik jetzt als eine Art Sprache aufgefasst wird, die es zu übersetzen gilt, um ihre Wirkung zu erfahren.
Der Beginn dieser musikalischen Ästhetik knüpfte sich an den Namen Damon, welche Lehrer des Sokrates gewesen sein soll und eine Musikschule besaß. Während in der pythagoreischen Noetik Wertgegensätze zwischen kosmischer Harmonie und verächtlicher Virtuosenkunst festgestellte wurde, stellte Damon nun auch am realen Kunstwerk Gegensätze psychologisch – ethischer Natur fest.
Platons Musikauffassung steht sowohl was die psychisch – pädagogische Wirkung anbelangt als auch was die musikalische Paideia in Verbindung mit der Ausbildung des staatsbürgerlichen Bewusstseins betrifft mit der Damon – Schule in Berührung.
Auf der einen Seite steht für ihn in seiner „Politeia“ das Pädagogische: “Deshalb also… ist die Erziehung durch die Musik so überaus wichtig, weil am tiefsten in die Seele Rhythmus und Harmonie eindringen, sie am stärksten ergreifen und ihr edle Haltung verleihen: solche edle Haltung erzeugen sie, wenn man richtig erzogen wird, wenn nicht, dann die entgegengesetzte.“ Was das staatsbürgerliche Bewusstsein betrifft, beruft sich Sokrates auf Damon. Indem er den Staat in Schutz nimmt, lehnt er gleichzeitig jede Veränderung der bestehenden Formen der mousike ab. Es kann nämlich dem Staat nicht gleichgültig sein, welches Ethos und welcher Stil in den verschiedenen Formen der mousike zum Ausdruck kommen. So sagt Damon in der „Politeia“ dann auch: „Vor einer Musikerneuerung muss man sich hüten, sonst rüttelt man am Ganzen! Nirgends rüttelt man an den Gesetzen der Musik, ohne an die wichtigsten politischen Gesetzen zu rühren. Platon, der auf der einen Seite den Wert musikalischer Paideia erkannt hatte, betrachtete auf der anderen Seite jedoch mit kritischem Auge die musikalische Praxis seiner Zeit. Er wendet sich gegen jene Musik, die die Bildung des Menschen zum Staatsbürger gefährdet. Der positiven Ethosmusik stellt er die Genußmusik gegenüber, die den Hörer demoralisiert, die Bande zwischen Individuum und Gemeinschaft lockert.
Während einerseits zugegeben wird, dass die ästhetisch aufgenommene Musik den ganzen Menschen formen kann, verurteilt Platon allerdings andererseits die gauklerhafte Aisthesis samt den Kanonikern.
Wenn wir uns jetzt dem Bereich der Musik selbst zuwenden, so stellen wir fest, dass Platon nicht von absoluter Musik spricht, vielmehr vom Gesang und Lied, wo sich Text, Tonart und Rhythmus treffen. Unter Tonart wird jedenfalls Harmonie verstanden, ist aber, wie wir sehen werden, auch Melodie zu verstehen. Indem Platon sagt, dass Harmonie und Rhythmus dem Wort entsprechen müssen, drückte er noch einmal seine Gegnerschaft der absoluten Musik gegenüber aus.
Dadurch, dass es nun Tonarten, die entweder klagenden, weichlichen, aufrüttelnden oder milden Charakter besitzen, kommt Platon zu einer Auswahl ganz bestimmter Tonarten.
Mixolydisch, syntonolydisch und einige ähnliche scheiden aus, weil sie als klagende Tonarten für tüchtige Menschen unbrauchbar seien.
Unter Mixolydisch versteht Platon das Hyperdorische: h’ a’ g’ f’ e’ d ‘ c’ h’. Die Griechen bauten bekanntlich ihre Leiter von oben nach unten, also nicht so wie wir es heute gewohnt sind, auf. Die Leitern wurden aus fallenden Viertonreihen, den Tetrachorden aufgebaut. Durch Reihung zweier Tetrachorde erhalten wir eine vollständige Leiter. Im Gegensatz zu unserem Dur- und Mollsystem entstand durch jeweils verschiedene Stellung des Halbtonschrittes gemäß den verschiedenen Leitern sehr wohl eine Aussageänderung.
Hyperdorisch sagt nichts anderes, als dass von der Haupttonart Dorisch abwärts ein Tetrachord und darüber ein 2. angelegt wurde. Syntonolydisch ist gleichbedeutend mit Hypodorisch. Da unter den ionischen und lydischen Tonarten einigen als schlaff bezeichnet werden, also höchstens für Gelage gebraucht werden können, bleibt für den Gebrauch der kriegerischen Männer nur mehr das Dorische und das Phrygische .
Sofern Platon sich für die phrygische Tonart ausspricht, unterliegt er aber einem Irrtum, sie ist nämlich die Haupttonart der Dithyrambik, gilt also als leidenschaftlich. Der Dithyrambos war ja das Loblied auf Dionysos und seinem Kult geweiht, die Begleitung des Chores übernahmen Aulos und Barbiton. Hieraus leitet dann auch Nietzsche in seiner “Geburt der Tragödie“ fälschlicherweise das Dionysische als der Musik zugehörig und dem Prinzip des Apollinischen gegenüberstehend ab. Es zeigte sich, dass übrigens auch schon seine Instrumentenzuordnung mit dem Gegensatz Aulos – Kithara auf philologisch unfundiertem Boden steht. Wie erwähnt waren bei den Kultspielen um den Gott Dionysos der Aulos und das Barbiton beteiligt, daneben aber auch die Kithara. Die Schalmei mit dem Doppelrohrblatt (Aulos) kann also auch dem Phrygischen zugeordnete werden .
Aufgrund der beschränkten Anzahl der zu verwendeten Tonarten verzichtet Platon auf “vielharmonische“ Instrumente wie Harfen und Zimbeln etc. und spricht sich für Lyra, Kithara und Syrinx (Panpfeife) aus.
Nachdem nun der Staat von den Tonarten gereinigt wurde, wendet sich Platon dem Rhythmus zu. Den Ausgangspunkt sollen nicht verschiedene Versfüße und Rhythmen bilden, vielmehr der Lebensrhythmus eines ordentlichen und tapferen Mannes. Danach soll sich Versfuß und Melodie richten.
In dieser Frage erhalten wir freilich über Damon keine befriedigende Antwort. Platon stellt zwar fest, dass es drei Hauptgruppen von Rhythmus gibt, nämlich in Verhältnis 2:2, 2:1 und 3:2. Über Damon erfahren wir nur die Namen einiger Versfüße: Enhophier, Daktylos und Heroos und ihre wahrscheinliche Zusammensetzung. Obwohl die unterschiedliche Wirkung auf den Menschen nicht aufgezeigt werden kann, wird diese vorausgesetzt und gefordert. Wie sich der jeweilige Rhythmus gemeinsam mit der Tonart aus dem Inhalt ergebe, leite sich dieser wiederum aus dem Charakter der Seele ab.
Dichter sollten also nur dann schaffen, wenn sie es vermögen, das Abbild eines guten Charakters ihren Werken einzuprägen, damit nicht die Wächter an Bildern der Schlechtigkeit erzogen werden. Wobei die Erziehung durch Musik nach Platon ja deshalb so wichtig ist, weil, wie er in seiner „Politeia“ schreibt, sich am tiefsten in die Seele Rhythmus und Harmonie eindringen, sie am stärksten ergreifen und ihr edle Haltung verleihen: solch edle Haltung erzeugen sie, wenn man richtig erzogen wird, wenn nicht, dann die entgegengesetzte. Und zum anderen, weil das Fehlerhafte und Schlechte am Kunstwerk wie in der Natur am schärfsten der erkennt, der in der Musik richtig erzogen ist, und weil er – aus gerechtem Unwillen darüber – voll Freude das Schöne lobt, es in seine Seele aufnimmt und sich nährt davon und schön wird und trefflich.“
Hier wird der Begriff der “ Kalokagatia“ erwähnt. Es geht nicht mehr nur um die Güte, sondern auch um die Schönheit, allerdings als Wesenseigenschaft von Körper und Seele. “Wenn nur schöner Seelenadel und die schön zu ihm passende und mit ihm harmonisierende äußere Gestalt sich zusammenfinden.., dann ist das wohl der schönste Anblick für jeden.“ (Der Staat, 3. Buch) Daß der Seelenadel im Vordergrund steht, geht daraus hervor, dass, nachdem das Schönste am lebenswertesten sei, bei fehlender Schönheit der Seele ein Mensch nicht, bei fehlender Schönheit des Körpers dieser aber schon geliebt werden könne. Die Erörterung über die Erziehung durch Musik endet mit dem Satz: „Alles Musische muss aber enden in der Liebe zum Schönen.“ Hier tritt die ästhetische Grundhaltung Platons nochmals deutlich hervor: in der Liebe zum Schönen ist der Abschluss der musischen Erziehung erreicht, freilich ist die Erziehung selbst noch nicht zu Ende, denn aus Schaulustigen am Einzelding müssen weisheitsliebende “ Philosophen“ werden.
Im 5. Und 6. Buch des Staates wird die Herrschaft der Philosophen als Vorbedingung für einen gerechten Staat genannt. Nur durch philosophische Erziehung ist es möglich, Herrscher heranzubilden, die ihren gestellten Aufgaben gerecht werden. Der Weg der Erziehung führt von den Schatten der Sinnenwelt zu den Ideen. Es muss nun danach gesucht werden, was ein solcher Gegenstand des Lernens sein soll, dass er die Kraft besitzt, die Seele umzulenken. Dieser Inhalt ist verschieden von der Bildung der Wächter. Es ist weder die Gymnastik, die sich mit Werden und Vergehen des Körpers beschäftigt, aber auch nicht die Musenkunst, wie sie schon besprochen worden ist.
Denn was Rhythmus, Harmonie und Wort erreichen, ist nur Charakterbildung durch Gewöhnung, es handelt sich hier um kein Wissen. Ebenso wenig helfen die einzelnen praktischen Berufszweige weiter, denn sie sind handwerkmäßig unedel.
Was führt uns also auf den Gegenstand des Lernens? Etwas, was unentbehrliche Voraussetzung für die Musenkunst, die Forschung und die Wissenschaften ist: Zahl und Rechenkunst.
Wir erinnern uns, dass die Pythagoreer in der Zahl das Wesen der Dinge erblickt haben. Neben den später zum Trivium zusammengefassten sprachlichen Fächern Grammatik, Rhetorik und Dialektik wurden zur Zeit Platons auch die mathematischen Fächer – späteres Quadrivium – nämlich Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik gelehrt. Wobei jetzt unter „mousike“ die arithmetische Disziplin der Pythagoreer verstanden wurde. Die mathematischen Fächer sind für Platon jedoch mehr als nur praktischer Nutzen, sie sollen Anlass sein zur Schau des Wesens der Zahl vorzudringen, nicht wegen Verkauf und Kauf sollen sie gelehrt werden, sondern wegen der Seele, damit sie sich zum Wesen der Dinge wende.
In der Reihe der Zahlenfächer führt Platon die Harmonik als letzte an, fasste sie jedoch mit der Astronomie zusammen, weil auch sie Zahlenwissenschaft der Bewegung sei.
Auch im Abschnitt über die Harmonik erfahren wir, wie Platon den mathematischen Einzelfächern nur propädeutischen Charakter zuschreibt. Weil die Aufgabe der Beantwortung so umfangreich sei, will Platon die Pythagoreer über die Harmonik befragen. Gleichzeitig will er aber seinen Standpunkt bekräftigt wissen, dass alle intellektuellen Bemühungen unvollkommen sind, auch wenn Sie viel Wissensstoff vermitteln, wenn nicht auf den höchsten Erkenntnisgegenstand abgezielt wird. Es geht also nicht darum, Konsonanzen und Töne zu messen. Sokrates spricht von den auf die Wirbel gespannten Saiten, die mit dem Plektrum angeschlagen werden und personifiziert dies mit gefolterten Sklaven. Er richtet sich nicht gegen Empiriker, sondern gegen die Theoretiker, die über die Harmonie Auskunft zu geben versuchen. Er vergleicht sie mit den Astronomen: “ sie machen dasselbe wie die Astronomen. Sie erforschen die Zahlenverhältnisse zu den gehörten Akkorden, ohne aber zu den eigentlichen Problemen emporzusteigen, welche Zahlen harmonische sind, welche nicht und warum!“
Platon steht also auf der einen Seite im Gegensatz zu den Fachgelehrten der Zeit, auf der anderen Seite schreitet er über die Pythagoreer hinaus, indem er nicht bei der Erforschung der Erscheinungen und deren Rückführung auf zahlenmäßige Relationen bleibt, sondern über die mathematischen Gesetzmäßigkeiten zu den Ideen vorzudringen versucht. Die Pythagoreer sind für Platon maßgebend im Fach, wenn er auch deren Ergebnisse zum Zweck der Erziehung ganz anders auswertet. Ihnen gegenüber stehen jene, die von der Sinneswahrnehmung, von der Äisthesis also, ausgehen und weiter von der eigentlichen Wissenschaft entfernt seien.
Dieser zuletzt beschriebene Abschnitt des 7. Buches aus Platons Staat zeigt, dass zwischen der Musik als Kunst, wie sie auch emotionelle Wirkungen auslöst und dem mathematischen Zweig eine große Kluft besteht. Nach Platon besitzt die mathematische Wissenschaft nicht ihren Wert in sich selbst, die Beschäftigung mit dem Gegenstand Musik soll wie alle anderen Forschungszweige der Mathematik dem Zweck einer Umorientierung vom Werden zum Sein dienen.
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